Beate erinnert sich….

Passend dazu, dass das Hamburg Ballett 2024 ein Stück von Pina Bausch auf die Bühne gebracht hat, erinnert sich Beate Schüßler-Preuß, Leiterin des Ballettstudio Beate Schüßler-Preuß in Hamburg, an die Legende im Modernen Tanz und Tanztheater und ihre damalige Dozentin an der Folkwang-Hochschule in Essen…

Als ich 1968 an die Folkwang-Hochschule zur Tanzausbildung ging, war Pina gerade aus den USA zurück, wo sie ein Stipendium zur tänzerischen Weiterbildung absolvierte und als Tänzerin in verschiedenen Kompanien tanzte. An der Folkwangschule war sie Lehrerin für Limon-Technik und Improvisation, gleichzeitig war sie Tänzerin im Folkwang-Ballett unter Kurt Joos, das aus Absolventen der Tanzabteilung der Hochschule bestand. In ihren Improvisations-Stunden hat sie damals schon so mit uns gearbeitet wie später mit ihrem Ensemble. Sie wollte keine Aneinanderreihung von Tanzschritten sehen, sie wollte in den Mensch hineinschauen, wollte uns dazu bringen, dass jeder von uns das Innerste aus seiner menschlichen Tiefe hervorholt und mit Körpersprache zum Ausdruck bringt. Für mich als leidenschaftliche Ballett- und Folkloretänzerin war das zuerst nicht einfach, aber Pina beharrte immer wieder darauf, sich zu öffnen, frei zu werden, sich fallen zu lassen, Gefühle zuzulassen, keine Scheu oder gar Angst vor Meinungen anderer zu haben, mutig zu sein, sich von einer anderen Seite zu zeigen. Sie hat uns immer mal Minisequenzen aus dem Alltag improvisieren lassen, zum Beispiel der erste Blick morgens in den Spiegel, was passiert dabei, was denkst und fühlst du dabei, was entwickelt sich daraus, was sagt dir dein Blick. Kleine Bewegungsabläufe daraus ließ sie uns immer und immer wiederholen und notierte ständig etwas in ihr Büchlein. Man musste bei ihr schon arg über seinen eigenen Schatten springen, nicht selten endeten diese Stunden sehr emotional.

Ihre ersten eigenen Choreographien, meist für Wettbewerbe oder kleine Auftragsproduktionen, waren noch sehr brav, auch noch an die Grundlagen des klassischen Balletts angelehnt, wie zum Beispiel eine Tanzeinlage in einer Oper von Purcel für die Schwetzinger Festspiele, bei der ich auch mittanzen durfte, im knielangen Balletttutu.

1970, da war ich noch in der Ausbildung und Pina Leiterin des Essener Folkwang-Balletts, hat sie mich für ihr Ballett „Nachnull“ geholt, eine Choreographie für 5 Tänzerinnen, mit dem wir unter anderem in Paris gastierten. Eins der wenigen Werke, das sie vor ihrer Zeit mit dem Wuppertaler Tanztheater choreographiert hat. „Nachnull“, wie der Titel so die Choreo. In merkwürdigen Skeletttricots, abgehackte, mechanische, zuckende Bewegungen, fast grotesk, verrückt, mit irrem Gesichtsausdruck. Pina beschäftigte sich darin mit dem Tod und danach.

In ihren Choreographien ging es immer wieder um das Leben an sich, zwischenmenschliche Beziehungen, Geschlechterkampf, Mann Frau, miteinander, gegeneinander, Partnerschaft, Liebe, Freundschaft, Konkurrenz, Alltagsstress, Angst, Verzweiflung, Unterdrückung, Gewalt. Auch mal humorvoll, fast komisch interpretiert, aber immer tiefsinnig. Häufig, besonders in ihren frühen Balletten zeigte sie Frauen in Unterrock ähnlichen durchsichtigen Kleidern, halb nackig, mit herunterhängendem Träger, wirren offenen Haaren, sich in Zimmerecken verkriechen, während die Männer Gockel ähnlich vor Kraft strotzten.
Obwohl sich in den 70ern, also in Pinas Anfängen als Choreographin des Wuppertaler Tanztheaters, die Frauen in der Gesellschaft schon emanzipiert zu sein zeigten, weg vom Herd, freie Berufswahl, freie Liebe, freie Meinung, legte Pina immer wieder den Daumen direkt in die Wunden und zeigte was schief läuft im Alltag und im Leben und regte zum Nachdenken an, was dem damaligen noch sehr Ballett orientiertem Publikum nicht unbedingt gefiel.

Für mich war Pina eine außergewöhnliche Frau, als Tänzerin sehr groß, sehr dünn, mit riesigen Füßen, langen Armen, fast immer eine Zigarette zwischen ihren langen Fingern, tiefliegende Augen mit dunklen Augenringen, nie geschminkt, immer schlicht gekleidet, kein Schmuck, meist ernst und nachdenklich, mit dunkler ruhiger Stimme im Ruhrpott-Slang. Also äußerlich unauffällig, bescheiden, zurückhaltend, innerlich muss sie soviel beschäftigt haben, hat sie soviel ausdrücken wollen, und mit ihrem Gespür und ihrer Schaffenskraft hat sie soviel bewegt.

Pina ist viel zu früh gestorben!

Ich bedaure, dass in der Neumeier-Ära meines Wissens nie ein Ballett von ihr in der Staatsoper gezeigt wurde, nur wenige auf Kampnagel, aber vielleicht war das Hamburger Publikum auch noch nicht offen genug für ihren Tanzstil. Der neue Ballettintendant Volpi hat nun in dieser Spielzeit ein Ballett von Pina Bausch, das 50 Jahre nicht getanzt wurde, von einer damaligen Tänzerin des Wuppertaler Tanztheaters nach ihren Puzzle ähnlichen Recherchen mit dem Hamburg-Ballett wieder auferstehen lassen. Pina und ihre Werke waren und sind so wichtig für die Geschichte des Modernen Tanz und des Tanztheaters. Die Tanzwelt darf sie nicht vergessen. Ihr Sohn hat vor einigen Jahren die Pina Bausch-Foundation gegründet und ihre frühen Ballette an Hand von Videoaufzeichnungen, Skizzen, Fotos und Nachforschungen bei ehemaliger Tänzern und Tänzerinnen für jedermann zugänglich gemacht.

Obwohl ich als ihre ehemalige Schülerin nicht in die Sparte Moderner Tanz gegangen bin und ihr Angebot für ein Engagement in ihrem Wuppertal-Ensemble abgelehnt habe, da ich schon in Hamburg engagiert war, hat sie uns jungen, am Anfang unserer Karriere stehenden Tänzern und Tänzerinnen soviel mit auf den Weg geben können: seid mutig, traut euch, macht es obwohl ihr Angst habt, es nicht zu schaffen, nichts ist peinlich, seid offen für Neues, kümmert euch nicht um das Gerede anderer, seid ihr selbst, schaut und geht nach vorn.
(Da muss ich an Pinas „Nachnull“ denken, wer will schon gern im grässlichen Gerippe-Outfit mit spastischen Bewegungen auf der Bühne tanzen…)

Heute ermutige ich unsere Tanzschüler*innen immer wieder aus der gewohnten Komfortzone herauszukommen und eine Rolle oder auch nur eine Schrittfolge mit Inbrunst, mit voller Leidenschaft, aus ganzem Herzen zu verkörpern.

Danke Pina!

von Beate Schüßler-Preuß
Hamburg, 5. 3. 2025

Wer sich noch weiter zu Pina Bausch informieren möchte, findet vielseitige Infos bei der Pina Bausch Foundation

Beate ganz links im Grand Battement in Pina Bauschs Stück Nachnull 1970
Tanzpause 1969, Beate links in zweiter Reihe am Stricken und Pina mittig sitzend im Bild
Beate 1969 mit blondem Zopf mit ihren Mittänzerinnen am Stricken in der Pause